Der Anker-Effekt: Wie erste Informationen unsere Entscheidungen beeinflussen

Der Anker-Effekt ist ein interessantes psychologisches Phänomen, das aufzeigt, wie erste Informationen unsere Wahrnehmungen, Urteile und Entscheidungen beeinflussen können. Ursprünglich von den Psychologen Amos Tversky und Daniel Kahneman beschrieben, zeigt der Anker-Effekt, dass unser Denken oft unbewusst von einem „Anker“ oder einer Ausgangsinformation verzerrt wird. Diese Erkenntnis hat bedeutende Implikationen für zahlreiche Bereiche, einschließlich Verhandlungen, Marketing und juristische Entscheidungen.

Grundlegendes zum Anker-Effekt

Der Anker-Effekt tritt auf, wenn Menschen eine numerische Schätzung abgeben sollen und dabei durch eine vorher präsentierte Zahl beeinflusst werden. Diese Zahl dient als kognitiver Anker, an dem sich alle weiteren Schätzungen und Entscheidungen ausrichten. Selbst wenn die Ankerzahl offensichtlich irrelevant ist, hat sie oft einen signifikanten Einfluss.

Anker-Effekt
Mit einem Anker Entscheidungen beeinflussen (Foto von Janosch Diggelmann auf Unsplash)

Experimentelle Ergebnisse und Beispiele

Ein klassisches Experiment von Tversky und Kahneman (1974) zeigt den Effekt deutlich: Probanden wurden gebeten, die Anzahl afrikanischer Länder in den Vereinten Nationen zu schätzen. Zuvor drehte eine Gruppe ein Glücksrad, das entweder bei 10 oder 65 stoppte. Teilnehmer, die die Zahl 10 gesehen hatten, schätzten im Durchschnitt, dass 25 Prozent der UN-Mitglieder afrikanische Länder sind, während die Gruppe mit der 65 als Anker einen Anteil von 45 Prozent schätzte.

Ein weiteres bemerkenswertes Experiment betraf die Einschätzung des Alters von Mahatma Gandhi. In einer Studie von Strack und Mussweiler (1997) wurde einer Gruppe die Frage gestellt: „War Mahatma Gandhi älter oder jünger als 9 Jahre, als er starb?“ Eine andere Gruppe erhielt die Frage: „War Mahatma Gandhi älter oder jünger als 140 Jahre, als er starb?“ Diese absichtlich extreme Ankerzahl führte zu deutlich unterschiedlichen Schätzungen seines tatsächlichen Alters. Probanden, die den Anker von 9 Jahren erhielten, schätzten durchschnittlich, dass Gandhi etwa 50 Jahre alt war, als er starb, während diejenigen, die den Anker von 140 Jahren erhielten, sein Alter auf etwa 67 Jahre schätzten. Tatsächlich war Gandhi 78 Jahre alt, als er starb.

Anwendung und Bedeutung

Verhandlungen

In Verhandlungssituationen setzen geschickte Verhandlungsführer hohe oder niedrige Anker, um die Erwartungen der Gegenseite zu beeinflussen. Ein hoher Anfangspreis in Gehaltsverhandlungen kann dazu führen, dass das Endangebot näher am oberen Ende des Verhandlungsspielraums liegt.

Marketing und Preisgestaltung

Der Anker-Effekt wird oft im Marketing genutzt, um Produkte als günstiger erscheinen zu lassen. Ein hoher ursprünglicher Preis, der durch Rabatte reduziert wird, lässt das Angebot verlockender wirken. Studien haben gezeigt, dass Konsumenten eher bereit sind, ein Produkt zu kaufen, wenn der Ankerpreis deutlich höher ist als der Angebotspreis (Adaval & Monroe, 2002).

Juristische Entscheidungen

Auch im juristischen Kontext spielt der Anker-Effekt eine Rolle. Eine Studie von Englich, Mussweiler und Strack (2006) zeigte, dass Richter von Anfangsstrafforderungen beeinflusst werden. Richter, die höhere Strafen als Anker vorgelegt bekamen, tendierten dazu, härtere Urteile zu fällen.

Kritische Betrachtung und Strategien zur Minderung des Effekts

Obwohl der Anker-Effekt weit verbreitet ist, gibt es Strategien, um seinen Einfluss zu mindern. Bewusstes Überprüfen und Hinterfragen der ersten präsentierten Informationen kann helfen, den verzerrenden Effekt zu reduzieren. Schulungen und Sensibilisierungsmaßnahmen können Entscheidungsträger dabei unterstützen, bewusster und kritischer zu urteilen.

Literatur

Adaval, R., & Monroe, K. B. (2002). Automatic Construction and Use of Contextual Information for Product and Price Evaluations. Journal of Consumer Research, 28(4), 572-588.

Englich, B., Mussweiler, T., & Strack, F. (2006). Playing Dice With Criminal Sentences: The Influence of Irrelevant Anchors on Experts‘ Judicial Decision Making. Personality and Social Psychology Bulletin, 32(2), 188-200.

Strack, F., & Mussweiler, T. (1997). Explaining the Enigmatic Anchoring Effect: Mechanisms of Selective Accessibility. Journal of Personality and Social Psychology, 73(3), 437-446.

Tversky, A., & Kahneman, D. (1974). Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases. Science, 185(4157), 1124-1131.

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